Hallo Anna,
also, wenn ich mir nur ein einziges Buch ausuchen dürfte, wär's der Faust (Teil 1, nicht 2). Den habe ich sicherlich schon zwanzigmal gelesen, ich kann ihn teilweise auswendig und habe Faust- Illustrationen in allen Zimmern hängen. Kein anderes Buch, das ich kenne, bringt soviele komplexe Themen so kurz, bündig, ironisch, doppeldeutig und gleichzeitig glasklar auf den Punkt, und das auch noch gereimt und in einem phantastischen Deutsch fast ohne Fremdwörter. Hinzu kommt, daß alle drei Hauptfiguren derart komplexe Charaktere sind, daß sich ihre Wahrnehmung mit dem Alter des Lesers wandelt. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, war ich ein Kind. Da fand ich den Faust selbst toll - was für ein Held! Tollkühn, verwegen, will alles wissen, alles wagen...so wollte ich auch sein. Über Jahre hinweg war es dann Mephisto, den ich großartig fand. Er durchschaute alles, stellte dem Faust immer wieder seine eigene Widersprüchlichkeit, Rücksichtslosigkeit und vor allem seinen Egoismus vor die Augen, und irgendeine Bemerkung meiner Oma brachte mich dann dazu, zu begreifen, daß Gretchen eigentlich gar nicht nur das dumme, ausgenutzte Mädchen war, sondern viel mehr Güte und Nachdenklichkeit besaß als der weltenstürmende Angeber namens Faust.
Dieses Jahr ist bei uns ziemlich viel schiefgelaufen, nicht bei den Kindern, aber sonst (Geld, Arbeit, Freunde & Gesundheit) - da habe ich mich immer wieder mit dem Satz getröstet, den Mephisto zu Faust sagt, als der mal wieder wegen ziemlich eingebildeter Leiden am Leben verzweifelte:
"Es lebe, wer sich tapfer hält!
Du bist doch sonst so ziemlich eingeteufelt.
Nichts Abgeschmackters find ich in der Welt
Als einen Teufel, der verzweifelt."
Nun ja, also nach dem Faust, der gemeinsam mit der Bibel da Buch der Bücher ist für mich, gibt es natürlich noch mengenweise andere Lieblingsbücher. Ich unterscheide da auch zwischen "Büchern fürs Leben" und "Flugzeugbüchern" oder "Zugbüchern", die müssen spannend sein und so geschrieben, daß man gar nicht merkt, wenn der Flieger gerade in schrecklichen Turbulenzen ist oder der Zug sich mit Fußballrowdies füllt und zwei Stunden Verspätung hat. Flugzeugbücher sind auch gut, wenn man krank ist und das Bett hüten muß, dann am allerbesten in Serie.
Am aller- allerbesten sind Bücher, die zwar so spannend sind, daß sie fürs Flugzeug taugen, dann aber auch noch so gut geschrieben, daß man sie nicht gleich wegwerfen will (Flugzeugbücher für Leben).
Eine Auswahl:
- Alle Bände Harry Potter und Herr der Ringe (oben schon erwähnt); den Herrn der Ringe habe ich mir mit 15 vom Taschengeld gekauft und ohne Pause durchgelesen; danach sah ich, wenn ich nachts aufs Klo mußte, Kankra vor der Türe lauern und wenn ich nachts mit dem Fahrrad durch einsames Gelände mußte, wähnte ich die Nazgûl hinter mir.
- Das Lied von Eis und Feuer (Game of Thrones), alle 10 Bände; die haben Yusuf und ich letzten Herbst um die Wette gelesen und uns darum gestritten, wer jetzt als erster Band 7 haben durfte...
- die Millenium- Krimis von Stieg Larsson (der erste ist der beste) sowie alle Wallanderkrimis und alle Krimis mit Carl Morck und etwa die Hälfte der Bücher von Agatha Christie sowie grundsätzlich alles von Conan Doyle
- "Pillars of the Earth" und "World without End" von Ken Follett sowie der Medicus von Noah Gordon; letzteres enthält zwar einige historische Fehler, ist aber derartig packend geschrieben, daß der geneigte Leser darüber gnädig hinwegsieht. Und Ken Follett schreibt richtig gut, man hat das Gefühl, das pralle Leben breite sich vor einem aus und fiebert bis zum Ende mit.
- von John Grisham "a Painted House" und "the chamber"; beide sind nicht die üblichen Anwaltsthriller. Das erste ist über eine Kindheit in den amerikanischen Südstaaten, in die auf einmal die GEWALT in Form einer rücksichtslosen Hillbillybande hereinbricht, das zweite über einen jungen Anwalt, der seinen Großvater verteidigt, der wegen eines Ku-Klux-Klan-Mordes in der Todeszelle sitzt.
Dann gibt es noch die Bücher, die einfach lesenwert sind und nach ein paar Jahren noch einmal mit erneutem Lust- und Erkenntnisgewinn gelesen werden können. Nochmal eine Auswahl:
- Nâzım Hikmet: Memleketimden İnsan Manzaraları (Menschenlandschaften); das ist für den türkischen Buchliebhaber das, was der Faust für den Deutschen ist, es ist einfach das Universalbuch. Leider geht in der deutschen Übersetzung viel verloren, es sind gerade die sprachlichen Stilmitttel, die Nâzım Hikmet so eine einfühlsame Beschreibung der vielen verschiedenen Persönlichkeiten, die alle zusammen seine Heimat ausmachen, ermöglichen - und wenn das alles auf deutsch ist, beschreibt es den Seelenzustand der Türken aus den 40er Jahren nicht mehr ganz so genau.
- "Song of Lawino" von Okot p'Bitek. Das ist für den ugandischen Buchliebhaber...ihr könnt euch schon denken. Eigentlich wurde der Text auf Acholi geschrieben, einer der vielen kleinen einheimischen Sprachen in Afrika, und dann hat ihn sein Autor selbst ins Englische übersetzt. Das Buch ist nicht so komplex wie die beiden oben zitierten, aber dafür ist es sehr originell und eindringlich. Es ist die Anklage einer traditionellen ugandischen Ehefrau an ihren Mann, der wie wild dabei ist, sich zu modernisieren und dabei mit seiner Persönlichkeit auf der Strecke bleibt.
- Nagib Mahfus: Die Kairo- Trilogie (ich weiß nicht, ob es auf Deutsch auch so heißt, aber vielleicht so ähnlich); das Buch beschreibt das Leben einer Kairoer Familie vor ungefähr 100 Jahren; es fängt ganz altmodisch- idyllisch an, und dann kann der Leser über 1000 Seiten verfolgen, wie dieses Idyll langsam auseinanderbricht, wie der Vater seine Autorität, der Sohn seinen Glauben, der andere Sohn sein Leben, eine Tochter all ihre Kinder etc. verlieren und was das mit ihnen macht. Hab ich diesen Sommer gelesen, als ich mit Malaria im Krankenhaus lag und fast abgekratzt wäre.
- alle englischen Klassikerinnen + Thomas Hardy; alles, was die Geschwister Bronte, Jane Austen, George Eliot oder Thomas Hardy geschrieben haben, ist einfach phantastisch und immer wieder lesenswert, ganz besonders Middlemarch, Tess of the d'Urbervilles, Villette, Sense and Sensibility, Jude the Obscure. Und natürlich jegliche Art von Gothic Novel und alles von Walter Scott und ganz besonders und immer wieder die Sonette von Shakespeare - How like a winter hath my absence been/ from thee, the pleasure of the fleeting year/ What freezings have I felt, what dark days seen/ what old December's bareness everywhere...wenn man die englische Sprache SO liest, kann man sie richtig LIEBEN lernen; das tröstet einen dann hinweg über das Englisch, das zu lesen und schreiben man ansonsten allerorten gezwungen wird.
- Die Liebe in den Zeiten der Cholera und 100 Jahre Einsamkeit von García Marquez; ich fürchte, da ist es mit der Übersetzung ähnlich wie bei Nâzım Hikmet, vielleicht nicht ganz so schlimm. Die Bücher entwickeln in der Originalsprache eine Poesie, die einfach nicht eins zu eins übertragbar ist. Ich habe "el amor en los tiempos del cólera" seinerzeit bewußt langsam gelesen, jeden Tag vielleicht fünf oder zehn Seiten, um jeden einzelnen Satz genüßlich auszukosten.
- Güven von Vedat Türkali. Es geht um den kommunistischen Untergrund im Istanbul der vierziger Jahre. Spannend, unglaublich detailreich und so geschrieben, daß man mit den Hauptpersonen friert und den Geschmack von Tee mit Rosinen auf der Zunge zu spüren glaubt. Habe ich zweimal direkt hintereinander gelesen. Und wer aus Istanbul kommt und im alten Zentrum gelebt hat, hat das Gefühl, am selben Ort in eine Zeitreise geraten zu sein.
- "The Memory of Love" von Aminatta Forna. Der Titel klingt nach Liebeskitsch, aber das ist es überhaupt nicht. Es geht darum, zu welchen Schandtaten ein Mensch im Namen der Liebe fähig sein kann, und was er dann wirklich gemacht hat, merkt der Leser erst ganz zum Schluß.
- "The Icarus Girl" von Helen Oyeyemi. Das Buch ist ganz verstörend; es von einer Siebzehnjährigen aus der Sicht einer Achtährigen geschrieben, und es geht um eine zwiegespaltene Identität.
Ich könnte noch seitenlang weiterschreiben.
Aber eigentlich muß ich ja arbeiten.
Hoffentlich ist der ein oder andere Tip was für die ein oder andere von euch!
Alles Liebe,
Eva